abstrakter Expressionismus, Informel und Tachismus: Die impulsive Geste

abstrakter Expressionismus, Informel und Tachismus: Die impulsive Geste
abstrakter Expressionismus, Informel und Tachismus: Die impulsive Geste
 
In erklärter Opposition zur geometrischen Abstraktion entstand Anfang der Vierzigerjahre eine breite künstlerische Bewegung, deren Werke auf die üblichen Kompositionsgesetze, Proportionsbeziehungen und Formbegrenzungen verzichteten. Die Tendenz zur Gestaltlosigkeit, die dieser informellen, das heißt nicht formal geordneten Kunst innewohnte, ließ bei der Kritik zunächst Zweifel an ihrem ästhetischen Wert aufkommen. Dennoch setzte sich der in den USA vorherrschende »abstrakte Expressionismus« mit seinen europäischen Ausprägungen Informel und Tachismus in den Fünfzigerjahren, zeitgleich zum wirtschaftlichen Wiederaufschwung nach dem Krieg, in der ganzen westlichen Welt durch - nicht zuletzt als Antwort auf den »sozialistischen Realismus« Osteuropas und als vermeintlich einziger angemessener künstlerischer Ausdruck von Freiheit und Individualismus.
 
Anknüpfen konnte die informelle Kunst besonders an die frühen abstrakten Improvisationen Wassily Kandinskys, an die Vorstellungen von Dynamik und Prozesshaftigkeit der Formdefinition, die Paul Klee am Bauhaus gelehrt hatte, an die Forderung der Surrealisten, psychischen Energien spontan freien Lauf zu lassen, und an die Befreiung der Farbe durch den Orphismus - also an Anregungen, die sich alle auf die Vorstellungswelt der Romantik zurückführen lassen. Unter dem Eindruck Klees, der Surrealisten und der spontanen Kunst von Kindern und psychisch Kranken hatte auch Jean Dubuffet 1942 mit seinen Bildern auf Gründen aus Sand, Erde, Kalk oder Gips begonnen, die er als »Art brut«, als »rohe Kunst«, bezeichnete. Von Klee beeinflusst waren auch die Collagen und Bilder von Antoni Tàpies.
 
Noch während der Vierzigerjahre, besonders nach dem Ende der Besatzung und des Krieges sowie nach der Rückkehr zahlreicher Emigranten, wurde Paris wieder zu dem kulturellen Anziehungspunkt Europas, der es seit dem 19. Jahrhundert gewesen war. Schon seit 1941 profilierte sich hier die »École de Paris«: Roger Bissière, Jean Bazaine, Alfred Manessier und Nicolas de Staël schufen nach den Gesetzen des Kubismus gefügte, abstrakte Bilder von harmonischer Farbigkeit und der in Frankreich traditionell gepflegten malerischen Kultur. Bald jedoch lockerten einige von ihnen die Malweise und gewannen dadurch Einfluss auf eine jüngere Generation.
 
Damals lebte in Paris auch der seit 1932 in Frankreich ansässige Wols, wie sich der Berliner Alfred Otto Wolfgang Schulze seit 1937 pseudonym nannte. Indem Wols die surrealistische Methode des »automatischen Schreibens« anwendete, suchte er sich - im Sinne der daoistischen Philosophie - vom tätigen, individuellen Bewusstsein zu befreien und zum »wahren Sein« zu gelangen. Unter anderem verhinderten dies jedoch seine schwierigen persönlichen Umstände: Während des Krieges war er als gebürtiger Deutscher monatelang interniert gewesen. Bei den Zeitgenossen hinterließen Wols' geradezu zwanghaft niedergeschriebenen Bilder dennoch einen tiefen Eindruck. Auch der seit 1935 in Paris lebende Hans Hartung war ein wichtiger Anreger einer abstrakten, psychographischen Malerei mit zeichenhaftem Charakter. Schon in den späten Dreißigerjahren hatte er unter dem Eindruck der Eisenplastiken von Julio González völlig abstrakte Psychogramme gemalt, in denen die unmittelbar gesetzte, impulsive Geste stark gebündelte Kürzel hervorbrachte.
 
Besonders Georges Mathieu erkannte 1947 die neuen Ansätze zu einer von der Gestalt befreiten Malerei. Seinem Engagement, das sich in der Organisation von Ausstellungen und in Publikationen niederschlug, verdankte sich die Durchsetzung des Informel. »Lyrische Abstraktion« nannte Mathieu seinen Stil »jenseits des Tachismus«, wie die informelle Kunst oft widersprüchlich und nicht immer im Sinn der Künstler mit einem älteren, vom französischen Wort »tache« (»Fleck«) abgeleiteten Begriff auch bezeichnet wurde. Allerdings führten Mathieus Aufsehen erregende Demonstrationen des Malakts in der Öffentlichkeit von 1952 an auch zu einer deutlichen Verflachung des künstlerischen Ausdrucks. Denn obwohl Mathieu den mit äußerster Konzentration vollzogenen, schon aktionistischen Malprozess noch beschleunigte, verfehlte er auf die Dauer sein Ziel, unbedingt Neues zu schaffen und nicht nur Bekanntes zu wiederholen. Seine piktographischen Bildsymbole verkamen bald zum bloßen dekorativen Schnörkel.
 
Im Herbst 1948 wurde - ebenso bezeichnender- wie paradoxerweise gerade in Paris - eine Gruppe dänischer, belgischer und niederländischer Maler, Bildhauer und Schriftsteller gegründet, deren Expressionismus in nordischen Mythen und in der Volkskunst wurzelte. Gemeinsam war ihnen die Wildheit und Urwüchsigkeit des künstlerischen Ausdrucks und das Interesse, über Kritzeleien in der Art von Kinderzeichnungen figurative Anspielungen ins Bild zu bringen. Die Gruppe um Asger Jorn, Karel Appel, Constant und Corneille verstand sich als lockere Vereinigung individualistischer Künstler und als experimentelle Alternative zur »École de Paris«. Nach den Anfangsbuchstaben der Hauptstädte Kopenhagen, Brüssel und Amsterdam gaben sie ihrer Gruppe den Namen »Cobra«. Zu ihren Ausstellungen luden sie auch Teilnehmer aus anderen europäischen Staaten ein. Die expressiven Tendenzen hatten mittlerweile überall Fuß gefasst. In Spanien arbeitete etwa Antonio Saura, in Italien Emilio Vedova, in Großbritannien Roger Hilton. So spielten die in Frankreich gemachten Erfahrungen eine bedeutende Rolle bei der Suche nach kultureller Identität im Europa der Nachkriegszeit.
 
Die schwierigste Situation fanden zweifellos die jungen Künstler in Deutschland vor. Nach Jahren der Isolation unter den Nationalsozialisten, die viele gerade auf dem Gebiet der Abstraktion bedeutende Künstler ins Exil getrieben hatten, herrschte dort trotz der Einschränkungen durch die Siegermächte ein grundsätzlich optimistisches kulturelles Klima. Angeregt von älteren Maler wie Willi Baumeister und Ernst Wilhelm Nay, kam es bald zu ersten vorübergehenden Zusammenschlüssen gleich gesinnter Künstler, denen schon einige der späteren Hauptvertreter informeller Kunst angehörten. Um den Anschluss an die internationale Szene wiederherzustellen, bemühten sie sich um Kontakte zu amerikanischen und französischen Künstlern. 1948 entstand die Gruppe »Junger Westen«, in deren Umkreis sich Karl Otto Götz und Emil Schumacher befanden. Ein Jahr später wurde in München die Gruppe »Zen 49« gegründet, mit der Hann Trier, K. R. H. Sonderborg, Fred Thieler, als Gäste auch Götz und Schumacher, verbunden waren. An deren rhythmischen, von ostasiatischer Kalligraphie beeinflussten Werken orientierten sich auch Bernard Schultze und Otto Greis, Gerhard Hoehme und Peter Brüning.
 
Annähernd gleichzeitig und weitgehend unabhängig von den europäischen Richtungen entwickelte sich in den USA eine als »abstrakter Expressionismus« bezeichnete Spielart informeller Kunst. Während sich in Europa das Informel als eine Alternative zur klassischen Maltradition durch einen bisweilen schmerzhaften Befreiungsprozess einzelner Künstler durchsetzte, fielen in Amerika Entstehung und Entfaltung eines eigenständigen Beitrags leichter, da man sich hier von besagten Traditionen bereits emanzipiert hatte. Denn nachdem sich die amerikanische Szene, besonders in New York, seit den Zwanzigerjahren den internationalen Einflüssen geöffnet hatte, brachten besonders die Surrealisten, die vor den Nationalsozialisten aus Europa flohen - unter ihnen André Masson, Salvador Dalí, Max Ernst, Yves Tanguy und André Breton -, in den frühen Vierzigerjahren bedeutende Impulse in ihre neue Heimat mit. Eine Sonderstellung hatte der bereits 1932 eingewanderte Hans Hofmann inne, der an seiner Kunstschule in New York seine expressionistischen Erfahrungen an zahlreiche der später führenden Künstler der Nachkriegsgeneration weitergab. Zu einem Pionier des abstrakten Expressionismus wurde auch der seit 1920 in den USA lebende Armenier Arshile Gorky, der den Surrealisten nahe stand.
 
Nachdem einige junge amerikanische Maler von den Surrealisten automatistische Verfahren zur Bildfindung übernommen hatten, verlagerte sich der Schwerpunkt ihrer Kunst vom Vorgang des Bild-Erfindens auf den eigentlichen Malprozess selbst und auf die Spontaneität seiner Ausführung. Zum Zweig einer solchen »gestischen Malerei« zählen Robert Motherwell und Franz Kline. Einen sehr eigenständigen Beitrag lieferte der seit 1957 meist in Rom lebende Cy Twombly mit Bildern und Zeichnungen, die an Kritzeleien erinnern und Schrift- wie Textfragmente einschließen. Das Einfließen starker Gestik findet sich auch im Werk von Sam Francis sowie von Jasper Johns und Robert Rauschenberg, den Wegbereitern der Pop-Art. Der bereits 1926 in die USA ausgewanderte Niederländer Willem De Kooning sagte sich erst spät von den europäischen Traditionen los. In seinen Kompositionen taucht die menschliche Figur immer wieder auf; da diesen Gestalten jedoch jeder räumliche Bezug fehlt, muss man ihre Gegenständlichkeit eher als Vorwand gestischer Malerei denn als Bildthema ansehen.
 
Jackson Pollocks »Actionpainting« bedeutet den wohl radikalsten Beitrag zum abstrakten Expressionismus. Um 1946/47 entwickelte Pollock eine besondere Tropftechnik, das »Dripping«. Mit ihrer Hilfe überzog er meist großformatige Malgründe flächendeckend mit spontan und rasch aufgeschleuderten, verspritzten und verträufelten Farbrinnsalen, bis sich auf der ganzen Leinwand ein annähernd gleichmäßiges, unentwirrbares Geflecht aus unregelmäßigen Linien, Flecken und Tropfspuren gebildet hatte. Seine Bilder vermeiden heterogene Elemente und eine deutliche Schwerpunktbildung, wie sie für die europäische Kunst verbindlich war. Vordringlich interessierte Pollock der zur Entstehung dieser Bilder nötige ekstatische Prozess. In ihm sah er die Möglichkeit des automatischen Umsetzens von Kräften, die in tieferen psychischen Schichten verborgen seien und die in die nahezu tänzerische Bewegung einflössen, die den ganzen Körper beim Malen erfasse. Mit dieser Auffassung bezog sich Pollock auf Carl Gustav Jungs psychoanalytische Archetypenlehre.
 
Mit dem schnellen Sieg der sich unprätentiös gebärdenden Pop-Art in den frühen Sechzigerjahren sahen sich die noch von einem hohen Ethos getragenen Künstler des abstrakten Expressionismus in den USA plötzlich ins Abseits gedrängt. Über dem Hinterteffen, in das der abstrakte Expressionismus nun nach Jahren enormer Popularität geriet, darf man allerdings nicht vergessen, dass sich mit ihm die amerikanische Kunst erstmals vom europäischen Vorbild losgelöst und als Faktor von weltkunstgeschichtlicher Bedeutung profiliert hatte.
 
Prof. Dr. Matthias Bleyl
 
 
Kunst des 20. Jahrhunderts, herausgegeben von Walther, Ingo F., 2 Bände. Köln u. a. 1998.
 Thomas, Karin: Bis heute. Stilgeschichte der bildenden Kunst im 20. Jahrhundert. Köln 101998.

Universal-Lexikon. 2012.

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  • Tachismus — Ta|chis|mus 〈[ ʃı̣s ] m.; ; unz.; Mal.〉 Richtung der Malerei nach dem 2. Weltkrieg, die Bilder nicht bewusst, sondern durch spontan aufgetragene Farbflecken gestaltete; oV Taschismus [zu frz. tache „Fleck“] * * * Ta|chis|mus [ta ʃɪsmʊs ], der;… …   Universal-Lexikon

  • informelle Kunst — Informel * * * informẹlle Kunst,   Informel [ɛ̃fɔr mɛl, französisch; von der auf den Kritiker M. Tapié zurückgehenden französischen Wortprägung signifiance de l informel »Bedeutsamkeit des Formenlosen«], Art informel [aːrɛ̃fɔr mɛl], Benennung… …   Universal-Lexikon

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